Schwere Erkrankungen besser verstehen? PETRA III spürt Ungleichgewichtsphänomene in gelierendem Eigelb auf
Eine Forschungsgruppe hat mit DESYs brillanter Röntgenquelle PETRA III die beim Kochen auftretenden Strukturveränderungen in Eigelb analysiert. Ihre Arbeit zeigt, wie verschiedene Bestandteile im Eigelb eines Hühnereis dazu beitragen, dass sich beim Erhitzen dessen weichkörnige Mikrostruktur entwickelt. Die Ergebnisse könnten nicht nur für die Lebensmittelindustrie von Interesse sein, sondern auch als Modell für die Physik hinter biologisch relevanten Nichtgleichgewichtsprozessen wie insbesondere der sogenannten Proteinaggregation dienen, die mit einer Reihe von schweren Krankheiten in Verbindung gebracht wird. Das Forschungsteam der Universität Siegen, der Universität Tübingen, von DESY und der TU Dortmund berichtet nun in der Fachzeitschrift Nature Communications über neue Erkenntnisse zu diesen Prozessen.
Erhitztes Eigelb wird zuhauf in unseren Küchen, in der Lebensmittelindustrie und in der Biotechnologie verwendet. Allerdings ist nur wenig über die Nichtgleichgewichtsprozesse bekannt, die bei der thermischen Behandlung des Eigelbinhalts ablaufen und zu der körnigen Gel-Mikrostruktur führen, die man von gekochtem Eigelb kennt. Mit kohärenter Synchrotronstrahlung aus der Röntgenquelle PETRA III untersuchte ein Team um Christian Gutt von der Universität Siegen und Frank Schreiber von der Universität Tübingen den funktionellen Beitrag der Proteine, der Fettmoleküle – sogenannte LDLs (Low-Density-Lipoproteine) – und der Eigelb-Granula zur Entwicklung der körnigen Gel-Mikrostruktur und der mikroskopischen Dynamik während des Kochens.
Abgesehen von seinem lebensmitteltechnischen, biologischen und auch therapeutischen Wert machen die Vielfalt der Proteine und die hohe Konzentration an LDLs das Eigelb auch zu einem idealen Kandidaten für die Untersuchung der Physik hinter biologisch relevanten Nichtgleichgewichtsprozessen. Denaturierung und Aggregation von Proteinen sind in biologischen Systemen in der Regel unerwünscht und schädlich; sie treten beispielsweise im Zusammenhang mit der Entstehung verschiedener menschlicher Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson und Atherosklerose auf. Darüber hinaus sind die Instabilität und Aggregation von Proteinarzneimitteln, die durch Abweichungen von den optimalen Umgebungsbedingungen wie Temperatur, pH-Wert, oder Ionenstärke verursacht werden, eine der größten Herausforderungen für die Pharmaindustrie.
„Um besser zu verstehen, was genau in biologischen Systemen passiert, ist es wichtig, die nanoskopischen Nichtgleichgewichtsprozesse zu verstehen, die an der Proteinaggregation auf den relevanten Zeit- und Längenskalen beteiligt sind“, erklärt Nimmi Das Anthuparambil, Hauptautorin der Studie, die in Gutts Arbeitsgruppe und an der PETRA III-Strahlführung P10 bei DESY arbeitet. Das Team setzte eine Technik namens Röntgenphotonen-Korrelationsspektroskopie (XPCS) ein, für die Röntgenbildserien von Protein-Denaturierungs- und LDL-Aggregationsprozessen aufgezeichnet werden. Für die Experimente verwendeten die Forschenden das Eigelb von herkömmlichen Hühnereiern, das in 1,5-Millimeter-Kapillaren gefüllt wurde. Während der Erhitzung des Eigelbs beobachteten sie die Proben bei Temperaturen von 63 bis 100 Grad Celsius über Zeitintervalle von bis zu 2 Stunden mit einer zeitlichen Auflösung bis hinunter zu 10 Millisekunden. „Wir beobachten, dass die zeitliche Entwicklung der Struktur des Protein-Gel-Netzwerks, die Aggregation der LDLs und die mikroskopischen Relaxationsraten jeweils bestimmten Skalierungsgesetzen folgen, die gut auf Masterkurven passen, wenn man die Wartezeiten während des Kochens mit ihren jeweiligen charakteristischen Zeiten skaliert. Das bedeutet, dass der Mechanismus, der zur Bildung der körnigen Gel-Mikrostruktur führt, unabhängig von der Kochtemperatur ist, dass aber die Geschwindigkeit dieser Prozesse von der Temperatur abhängt“, sagt Anthuparambil.
Aus ihren umfangreichen Datensätzen konnte das Team sogar ein allgemeines Zeit-Temperatur-Phasendiagramm für die dynamischen Prozesse während der Eigelbgelierung erstellen. „Dieses Diagramm veranschaulicht auf beeindruckende Weise die Kopplung der nanoskaligen Prozesse, die zur Gelstruktur führen, in einem weiten Bereich von Zeit-Temperatur-Kombinationen“, sagt Nafisa Begam (Universität Tübingen) aus dem Forschungsteam.
„Diese Experimente nutzen in optimaler Weise den kohärenten Anteil der Röntgenstrahlung an PETRA III“, sagt Fabian Westermeier, Mitglied des P10-Teams an PETRA III und Co-Autor der Studie. „Allerdings ist dieser Anteil begrenzt. DESYs Zukunftsprojekt PETRA IV wird einen hundertmal größeren kohärenten Strahlanteil haben und eine bis zu 10000-fach bessere Zeitauflösung solcher Messungen ermöglichen – ideal für das Verständnis dieser Prozesse.“
Christian Gutt betont, dass die Ergebnisse der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierten Studien auf einer engen Zusammenarbeit zwischen DESY und den Teams der Universitäten beruhen und erklärt: „Wir gehen davon aus, dass unsere Ergebnisse über den Bereich des Eigelbs hinaus relevant sind, und dass ähnliche Skalierungsgesetze eine Vielzahl von Denaturierungsphänomenen und nanoskaliger Strukturbildung in biologisch bedeutsamen dichten Proteinsystemen gelten.“
Künftige Forschungsarbeiten im Rahmen dieser Kooperation werden die Aggregation von Eigelbproteinen untersuchen, die durch Abweichungen von optimalen Salz- und pH-Bedingungen verursacht wird. Dies könnte Aufschluss über die geeigneten Bedingungen für die Stabilisierung der Proteine geben, was wiederum Auswirkungen auf die Lagerungsbedingungen für künftige Arzneimittel auf Proteinbasis hat.
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