Stammzellbasierte Translation im Fokus

Zahlreiche Akteure im Norden setzen auf Stammzellen für die medizinische Translation.

Der Norden als Bühne für die globale Stammzellforschung: Vom 23. bis 26. Juni 2021 sollte die Jahrestagung der International Society for Stem Cell Research (ISSCR) in Hamburg stattfinden. Organisiert vom Cluster Life Science Nord und der Stadt Hamburg, wäre das neue CCH - Congress Center Hamburg Schauplatz des weltweit größten Treffens von 4.000 Stammzell­forschenden aus über 60 Ländern gewesen. Die Corona-Pandemie hat diese Pläne durchkreuzt, das ISSCR Annual Meeting findet rein virtuell statt.

Für das zellbasierte Wirkstoffscreening setzt das Fraunhofer ITMP Hightech-Methoden ein. (Bild: ©Fraunhofer ITMP)

Die Geschäftsführerin der ISSCR, Nancy Witty, ist immer noch davon überzeugt, dass Hamburg nicht nur eine wunderschöne Stadt, sondern auch großartiger Austragungsort für die ISSCR-Jahrestagung ist. „Die enorme Unterstützung und die starke wissenschaftliche deutsche Stammzell-Community, Life Science Nord und die Stadt Hamburg waren wichtige Faktoren bei der Auswahl von Hamburg als Gastgeberstadt. Wir sind zwar enttäuscht, dass wir uns im Juni nicht persönlich treffen können, aber wir freuen uns, dass wir für unser Annual Meeting 2024 in Hamburg sein werden“, sagt Witty.

„Wir freuen uns, dass wir 2024 für das ISSCR Annual Meeting in Hamburg sein werden.“

Nancy Witty, CEO, International Society for Stem Cell Research (ISSCR)

„Über die ISSCR-Entscheidung für Hamburg haben wir uns riesig gefreut“, sagt Ole Pless, Leiter Translational Drug Discovery am Fraunhofer ITMP ScreeningPort, der als wissenschaftlicher Berater den Pitch für den Kongress koordinierte und in der hiesigen Stammzell-Community gut vernetzt ist. Hamburg und Schleswig-Holstein sind nicht nur ideale Standorte für hochkarätige wissenschaftliche Konferenzen. Es gibt auch eine sehr dynamische Forschungs- und Technologielandschaft auf dem Gebiet der Stammzellen. Dieser Artikel beleuchtet nur einige der aktuellen translationalen stammzellbasierten Ansätze, die im Norden entwickelt werden.

Als Quelle für neue lebende Zellen im Körper gibt es zwei Arten von Stammzellen: Adulte Stammzellen stellen die natürliche Reserve des Körpers für die Regeneration von Geweben und Organen dar. Diese Stammzellen befinden sich in den Geweben des Körpers und produzieren einen konstanten Vorrat an neuen Zellen, um Zellen zu ersetzen, die abgenutzt oder beschädigt sind.

Ole Pless, Leiter Translational Drug Discovery, Fraunhofer ITMP ScreeningPort (Bild: ©Fraunhofer ITMP)

Der andere Typ von Zellen sind die pluripotenten Stammzellen. Diese Zellen können sich in fast jede der mehr als 200 Zelltypen im menschlichen Körper entwickeln. Zu den pluripotenten Stammzellen gehören sowohl embryonale Stammzellen (ES-Zellen) als auch induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen). Letztere können durch Reprogrammierung gewonnen werden - eine Technologie, die das Feld im letzten Jahrzehnt revolutioniert hat. Bei der Reprogrammierung werden adulte menschliche Zellen mithilfe einer Reihe von Transkriptionsfaktoren in iPS-Zellen umgewandelt. iPS-Zellen sind eine unerschöpfliche Quelle für die Erzeugung jedes Zelltyps.

„Stammzellen helfen uns, bessere und realistischere Krankheitsmodelle für die Pharmaforschung und präklinische Entwicklung aufzubauen.“

Ole Pless

Das Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin und Pharmakologie ITMP ScreeningPort ist ein Forschungszentrum für translationale Medizin mit Sitz in Hamburg, das sich darauf spezialisiert hat, seine riesigen Sammlungen kleiner Moleküle nach Treffern zu durchsuchen, die das Potenzial haben, zu Medikamenten entwickelt zu werden.

Im Stammzelllabor des Fraunhofer ITMP ScreeningPort (Bild: ©Fraunhofer ITMP)

„Stammzellen helfen uns, bessere und realistischere Krankheitsmodelle für die Pharmaforschung und präklinische Entwicklung aufzubauen“, erklärt Pless. Ein Beispiel für eine neurodegenerative Erkrankung, die die Fraunhofer-Forschenden untersuchen, ist Multiple Sklerose (MS). MS ist die häufigste chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nerven­systems. Eine neuartige Strategie, die MS-Forscher weltweit in Wissenschaft und Pharmaindustrie verfolgen, ist es, Nervenzellen im Gehirn widerstandsfähiger gegen Stress zu machen: Sie sind auf der Suche nach Medikamenten mit neuroprotektiven Eigenschaften.

Hierzu arbeiten die Fraunhofer-Forscher eng mit Prof. Manuel Friese zusammen, dem Leiter des Instituts für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose (INIMS), einem translationalen Forschungs­institut am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Ein von Frieses Team identifizierter möglicher Angriffspunkt für Medikamente ist TRPM4, ein Ionenkanal in Nervenzellen. Bei chronischen Entzündungen ist der Ionenkanal hyperaktiv und ein permanenter Natriumeinstrom schädigt und zerstört schließlich die Nervenzellen. Gemeinsam mit dem Fraunhofer IME/ITMP ScreeningPort und dem Biotech-Unternehmen Evotec SE hat Frieses Team das Ziel, ein neuroprotektives Medikament zu entwickeln, das oral eingenommen werden kann. Das Konsortium hat bereits kleine Moleküle identifiziert, die als effektive TRPM4-Inhibitoren wirken.

Aus humanen iPS-Zellen generierte Nervenzellen (Bild: ©Undine Haferkamp, Fraunhofer ITMP)

„Wir haben einen vielseitigen Werkzeugkasten auf Basis der iPS-Zelltechnologie geschaffen, um die Inhibitoren direkt dort zu testen, wo sie therapeutisch wirken sollen: An menschlichen Neuronen“, sagt Pless. Die vielversprechende Forschung wurde bereits zum dritten Mal in Folge vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und erhielt im Rahmen eines Programms zur Validierung krankheitsrelevanter Ziel­strukturen 1,2 Millionen Euro. Ziel des Projekts ist es nun, mehr über TRPM4 als mögliche Zielstruktur und die Wirkstoff­kandidaten zu erfahren, um die für die fortschreitende Ver­schlechterung bei MS-Patienten spezifisch verantwortliche Nervenschädigung zu reduzieren.

Organsysteme modellieren

Ein weiterer Trend zielt darauf ab, Miniaturorgane oder spezialisierte Gewebe im Labor zu züchten und zu Multi­organsystemen zu kombinieren: Im interdisziplinären Forschungsprojekt "HiPSTAR" nutzen Fraunhofer-Forscher patienteneigene Zellen, um die molekularen Mechanismen zu entschlüsseln, die zur Alzheimer-Krankheit führen. Dafür hat das Team ein zellbasiertes Modell einer Blut-Hirnschranke entwickelt.

Auch Thomas Eschenhagen und sein Team am UKE und dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) sind ein Kraftzentrum der translationalen Stammzellforschung im Norden. Ihre Spezialität sind "engineered heart tissues" (EHTs), dreidimensionale Muskelgewebekonstrukte, die aus iPS-Zellen und anderen Stammzellen hergestellt werden können. Die Hamburger Ausgründung EHT Technologies GmbH mit Geschäftsführer Arne Hansen konstruiert Testsysteme, die leistungsfähige Werkzeuge für die pharmakologische Forschung und Medikamentenentwicklung sind. Das Team um Christine Klein vom Universitätsklinikum Lübeck hat sich auf die stammzellbasierte Erforschung der Parkinson-Krankheit spezialisiert.

Große Vielfalt der Ansätze

„iPS-Zellen haben Türen geöffnet, wo andere Technologien gescheitert sind“, sagt Werner Lanthaler, der Vorstands­vorsitzende der Evotec SE. Nicht nur auf dem Gebiet der neurodegenerativen Erkrankungen sei die iPS-Technologie ein hervorragendes Werkzeug für die Modellierung von Krankheiten und die Vorhersage der Wirksamkeit von Medikamenten.

„Was die systematische Integration der iPSC-Plattform in andere Wirkstoffforschungs-Technologien anbelangt, stehen wir an der Spitze der gesamten Branche.“

Werner Lanthaler, CEO, Evotec SE

In den letzten zehn Jahren hat Evotec eine iPSC-basierte Plattform aufgebaut, die in Bezug auf Durchsatz, Reproduzierbarkeit und Robustheit höchsten industriellen Standards entspricht. Evotecs iPSC-Team ist inzwischen auf mehr als 150 Mitarbeiter ange­wachsen. Die Plattform spielt eine wesentliche Rolle in lang­jährigen Allianzen mit strategischen Partnern, wie z. B. Bristol Myers Squibb (ehemals Celgene). „Was den Umfang der Plattform und die systematische Integration der iPSC-Plattform in alle anderen Wirkstoffforschungs-Technologien anbelangt, stehen wir an der Spitze der gesamten Branche“, sagt Lanthaler. In den letzten Jahren hat Evotec seine Plattform weiterentwickelt, um iPSC-basierte Zellen in zelltherapeutischen Ansätzen, etwa bei Diabetes, einzusetzen.

Und im Dezember 2020 sind Evotec und Sartorius eine Partnerschaft mit der Curexsys GmbH eingegangen, einem Göttinger Spezialisten auf dem aufstrebenden Gebiet der therapeutischen Exosomen. Dabei handelt es sich um kleine Vesikel, die aus menschlichen mesenchymalen Stammzellen (MSCs) gewonnen werden. Immer mehr Hinweise deuten darauf hin, dass Exosomen bei der Gewebereparatur helfen können und dass diese Vesikel Medikamente zu erkranktem Gewebe transpor­tieren könnten. Somit könnten sie die nächste Generation von Therapeutika in der Regenerativen Medizin sein.

Zellkulturtechnik und Zelllogistik

Mehrere Akteure im Norden sind auch Anbieter von dringend benötigten Stammzelltechnologien: Die Eppendorf AG bietet Bioreaktoren und Bioprozesstechnik für die Stammzellkul­tivierung an. PerkinElmer Celllular Technologies stellt High-Content-Imaging-Systeme her, die in stammzellbasierten Screens eingesetzt werden. Die PeproTech GmbH ist ein Laboranbieter, der sich auf Zellkulturmedien spezialisiert hat.

Das Kieler Start-up Cellbox Solutions GmbH baut tragbare Inkubatoren für den Transport von lebenden Zellen. Diese Hightech-Boxen bieten eine sichere Umgebung für den Transport von lebenden Zellen und biologischen Strukturen unter Laborbedingungen, zum Beispiel bei 37°C und 5% CO2. Geboren wurde die Idee an der Fraunhofer-Einrichtung für Marine Biotechnologie und Zelltechnik (EMB) in Lübeck. 2017 von Prof. Kathrin Adlkofer gegründet und aktuell von Geschäftsführer Wolfgang Kintzel geleitet, zählt Cellbox heute 15 Mitarbeiter und will weiterwachsen. Neben der Stammzellforschung und dem wachsenden Zelltherapiemarkt bedient das Start-up auch den Markt der In-vitro-Fertilisation.

Autor: Philipp Graf

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