Wie verändert KI die Präzisionsmedizin?

Anlässlich der „Woche der KI Lübeck“ diskutierten Fachleute über Chancen und Herausforderungen von smarten Algorithmen für die Medizin der Zukunft.

Schleswig-Holstein und insbesondere die Region Lübeck entwickelt sich immer stärker zu einem Ökosystem für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Medizin. Kein Wunder, dass es zu diesem Thema gleich mehrere Veranstaltungen in der Lübecker „Woche der KI“ Anfang November gab.

Knapp 50 Interessierte waren in das Konferenzzentrum media docks auf der Wallhalbinsel im Lübecker Hafen gekommen. Moderiert wurde die Veranstaltung von Professor Ralf Möller (DFKI) und Professor Philipp Rostalski (Fraunhofer IMTE) (Bilder(4): © Janin Rieckert, Hanse Innovation Campus Lübeck)

Welche Rolle KI für die Präzisionsmedizin spielt und wo zentrale Herausforderungen liegen, stand im Fokus einer Podiumsdiskussion am 3. November. Veranstaltet wurde das zweistündige Event vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI), der Fraunhofer-Einrichtung für Individualisierte und Zellbasierte Medizintechnik (IMTE), dem Cluster Life Science Nord und der Staatskanzlei Kiel.

Neue Geschäftsentwicklungen anstoßen

„Wir wollen ausloten, wie sich das hiesige Dreigestirn aus Data Science, KI und Medizintechnik in der Präzisionsmedizin weiterentwickeln kann“, sagte Möller. „Wir wollen neue Geschäftsentwicklungen und Netzwerke anstoßen und die Region Lübeck und Schleswig-Holstein voranbringen.

Prof. Torsten Buzug, Geschäftsführender Direktor, Fraunhofer IMTE

Der Direktor am Fraunhofer IMTE, Professor Torsten Buzug, lenkte den Blick des Publikums auf die vielen Herausforderungen im Gesundheitssektor heute und in Zukunft. So werde die in den Ruhestand gehende Babyboomer-Generation im kommenden Jahrzehnt für Engpässe bei Pflegekräften oder Ärzten sorgen und gleichzeitig Gesundheitsleistungen einfordern. „Das ist nur zu schaffen, wenn wir KI und Digitalisierung an jeder Stelle der Gesundheitskette voranbringen.“ Genau dies verfolge das Fraunhofer IMTE mit seinen Forschungsansätzen.

„Bei KI-basierten Geräten erwarten wir transparente und treffsichere Entscheidungen“, betonte er. Auch zum Thema Datenschutz und Datenhoheit äußerte sich Buzug. „Ich halte es für zutiefst unethisch, in der Klinik erhobene Daten nicht im Sinne des Patienten zu nutzen.“

KI-Fachkompetenz im Norden stärken

Delia Strunz, Director Government Affairs & Policy Germany, Johnson & Johnson

Für Delia Strunz vom Gesundheitskonzern Johnson & Johnson mit Medizintechnik-Standort in Norderstedt ist der Einsatz von KI ein wichtiger Baustein für eine passgenaue Gesundheitsversorgung. Zentrale Herausforderungen für ein Unternehmen wie J&J bei der Entwicklung von KI-Lösungen sei der Zugang zu Daten, die Datenqualität sowie die Vernetzung. „Die KI-Projekte im Norden sind sehr gut für die Entwicklung von Fachkompetenz und wir beteiligen uns hier gerne daran, um das Thema voranzubringen.“

Mit dem Thema Datenverfügbarkeit beschäftigt sich auch Alexander Unger vom Pharmaunternehmen AstraZeneca. „Viele Daten für den R&D-Bereich kommen nicht aus Deutschland, sondern aus den Nordischen Ländern, den USA oder Großbritannien“, sagte er. Unger stellte anhand eines Schaubilds vor, wo im gesamtem Lebenszyklus von AstraZeneca-Produkten derzeit KI-basierte Methoden zum Einsatz kommen.

Alexander Unger, Director Data Insights & Business Intelligence, AstraZeneca

„Da sich der Zugang zu Real-World-Daten schwierig gestaltet, beschäftigen wir uns in der deutschen Niederlassung derzeit viel mit synthetischen Daten“, so Unger. Das seien künstliche Daten, die die statistische Verteilung der Originaldaten widerspiegelten. So könne man das Thema Datenschutz umgehen und unter anderem für Entwickler frei zugängliche „Open data sets“ schaffen.

Herausforderungen Datenverfügbarkeit und Datenqualität

Ralf Lay brachte in seinem Impulsvortrag die Sicht der Ahrensburger Basler AG, die auf industrielle Kamerasysteme spezialisiert ist, ein. KI sei für das Gebiet der Computervision, also dem maschinellen Sehen, eine wichtige Technologie, die direkten und indirekten Einfluss auf Anwendungen in der individualisierten Medizin habe. Dazu zählte er die Laborautomatisierung, die Gewebezüchtung oder die Erkennung von Hauttumoren.

Frank Franz, Head of Advanced Analytics & Algorithms, Corporate Technology & Innovation, Dräger

Auch die Drägerwerk AG & Co. KGaA als Lübecker Unternehmen setzt auf KI. Bekannt ist Dräger für Therapiegeräte in der Akutmedizin. „Wir setzen zunehmend auf medizintechnische Systemlösungen“, sagte Frank Franz. KI werde auch bei Dräger als Schlüsseltechnologie gesehen, um multimodale Datenströme zu analysieren und „verdaubar“ zu machen. Dem hohen Potenzial stünde aber eine Vielzahl von Herausforderungen auf dem Weg zu kommerziell erfolgreichen Lösungen gegenüber. „Daten müssen fließen und hier gibt es bei der Interoperabilität und der Datenqualität noch viele ungelöste Probleme“, so Franz.

KI-Lösungen für Krebs- und Entzündungsmedizin

Prof. Cyrus Khandanpour, Geschäftsführender Vorstand Universitäres Cancer Center S-H (UCCSH)

Auf die Impulse der Wirtschaftsakteure schlossen sich drei Medizinerinnen und Mediziner vom Lübecker Campus des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) an. Der Krebsmediziner Professor Cyrus Khandanpour erläuterte, wie Daten aus dem molekularen Tumorboard des UCCSH bereits erfolgreich verwendet wurden, um Patienten aufgrund ihres molekularen Profils mit eigentlich für andere Erkrankungsbilder zugelassenen Medikamenten zu behandeln.

„Die Medizin der Zukunft ist datengetrieben, digital und individuell“, sagte Professor Hauke Busch vom Lübecker Institut für Experimentelle Dermatologie. Das Team des Systembiologen entwickelt unter anderem digitale Werkzeuge, um die Daten aus dem molekularen Tumorboard besser in das Krankenhausinformationssystem des UKSH einzubetten. Busch: „Vielfach liefern KI-basierte Analysen heute Korrelationen, aber wenige therapeutische Zielstrukturen, für die wir medizinische Lösungen anbieten können.“

Prof. Gabriela Riemekasten, Direktorin der Klinik für Rheumatologie und klinische Immunologie, UKSH/Campus Lübeck

Die UKSH-Professorin Gabriela Riemekasten, Direktorin der Klinik für Rheumatologie, erläuterte, wie KI zunehmend auch in der Entzündungsmedizin hilft, bessere Therapieentscheidungen zu treffen. Gerade bei immunologischen Erkrankungen sei hier die Grenze der Einflüsse von Genetik, Mikrobiom oder Umwelt fließend. Bei der Erforschung von regulatorischen Antikörpern sei man weltweit führend.

Hybride Systeme nutzen

In der anschließenden Diskussionsrunde vertieften die Fachleute einige Aspekte aus ihren Impulsvorträgen, darunter die Frage, wie man mit Unsicherheit umgehen sollte oder wie sich KI-Anwendungen zwischen Korrelation und Kausalität bewegen. Regina Abendroth, bei Life Science Nord Projektmanagerin für das Präzisionsmedizin-Verbundprojekt P.I.L.O.T., sagte, nach dem Hype in den vergangenen Jahren habe sich die Diskussion um das Potenzial von KI mittlerweile spürbar versachlicht. „Zunehmend wird klar: Was kann KI und was kann sie nicht.“

Prof. Philipp Rostalski, Direktor, Fraunhofer IMTE

Das griff auch Moderator Philipp Rostalski bei seiner Zusammenfassung der zentralen Botschaften aus der Diskussion auf: „Mehrfach heute zur Sprache kam, dass KI derzeit besonders erfolgreich darin ist, Spezialaufgaben zu lösen.“ Es sei auch deutlich geworden, dass die Zukunft vermutlich hybriden Systemen gehöre, in denen KI-Anwendungen mit modell- oder regelbasierten Systemen kombiniert würden. Darauf könne man bei zukünftigen Projektideen aufbauen.

Wie aus solchen Ideen neue Projekte für das KI-Med-Ökosystem in Lübeck und in Schleswig-Holstein schmieden lassen, darüber tauschten sich die Podiumsgäste und die Teilnehmenden dann noch im Anschluss der Veranstaltung aus.

Text: Philipp Graf

PS: Um KI in der industriellen Gesundheitswirtschaft wird sich auch das LSN Magazine 2023 drehen – bleiben Sie gespannt!

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