Gesundheitsdaten für die Präzisionsmedizin erschließen

Gesundheitsdaten für die Präzisionsmedizin erschließen

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist wichtige Triebkraft der Präzisionsmedizin, doch die Erzeugung und Nutzung von Gesundheitsdaten bleibt eine komplexe Aufgabe. Pharma-, Biotech- und Medizintechnikunternehmen im Norden stellen sich der Herausforderung und erkunden neue Wege der sektorübergreifenden Zusammenarbeit.

Wie wichtig sind Gesundheitsdaten für die Digitalisierung?

Für Jens Nieland sind Gesundheitsdaten die wichtigste Währung in der Gesundheitsversorgung: „Wer personalisierte Medizin betreiben will, ist auf die dafür notwendigen Daten angewiesen. Deshalb müssen alle Akteure, die an einem definierten Patientenpfad beteiligt sind, gemeinsame Schnittstellen und Standards entwickeln, um das bestmögliche medizinische Ergebnis für den einzelnen Patienten und das Gesundheitssystem im Allgemeinen zu erzielen.“

In seiner Funktion als Medical Advisor Medical Devices DACH bei Johnson & Johnson gehört er zu den Akteuren, die die Digitalisierung weiter vorantreiben, Herausforderungen und Potenziale diskutieren und neue Wege der Zusammenarbeit ausloten. Themen wie vernetzte Daten, Interoperabilität, Standardisierung und sektorübergreifender Austausch stehen auf seiner täglichen Agenda. Sein Ziel ist es, ein echtes digitales Ökosystem zu etablieren – intern bei J&J, aber auch in Zusammenarbeit mit externen Partnern.

Wir bewegen uns weg vom rein geräte- oder produktfokussierten Vertrieb hin zu Patientenpfadmodellen, die von digitalen Lösungen begleitet werden.

Jens Nieland,
Medical Advisor Medical Devices DACH, Johnson & Johnson

Müssen Pharma- und Medizinunternehmen jetzt zusammenarbeiten?

Seiner Meinung nach haben die vergangenen Monate und Jahre deutlich gezeigt, dass „die Branchengrenzen zwischen Pharma und Medizintechnik zunehmend verschwimmen.“ Pharma- und Biotech-Unternehmen entwickeln gezieltere Therapien auf der Grundlage neuer molekularer Erkenntnisse und Instrumente. Die Medizintechnikindustrie setzt zunehmend auf daten- und IT-gestützte Ansätze.

Jens Nieland ist Medical Advisor Medical Devices DACH bei Johnson & Johnson und treibt die Digitalisierung im Gesundheitswesen voran. © Nieland
Jens Nieland ist Medical Advisor Medical Devices DACH bei Johnson & Johnson und treibt die Digitalisierung im Gesundheitswesen voran. © Nieland

Gleichzeitig treiben ehrgeizige Pläne für verschiedene gesetzliche Rahmenbedingungen zur verstärkten Nutzung digitaler Gesundheitsanwendungen auf nationaler Ebene in Deutschland voran – sei es das Erstattungssystem für digitale Gesundheitslösungen oder die Bundesförderung der Digitalisierung von Krankenhäusern durch das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG). Das alles im Kontext der strengen Datenschutz- und Datensicherheitsgesetze in Europa.

Wie wird sich auf die Veränderung vorbereitet?

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich die Akteure im Gesundheitswesen in naher Zukunft auf diese Situation einstellen können. Aus diesem Grund hat das Life Science Nord Cluster das Projekt P.I.L.O.T. ins Leben gerufen, um diese Herausforderungen in den Bereichen

  • Pharma,
  • Medizintechnik
  • und Biotechnologie

zu bewältigen. Nieland gehört zu den aktiven Experten innerhalb dieses Netzwerks und argumentiert, dass ein ganzheitlicher Zugang zu Gesundheitsdaten für alles, was mit personalisierter oder präziser Medizin zu tun hat, unabdingbar ist. Infolgedessen werden sich die Strategien darauf verlagern, einzelne Therapien oder spezifische medizinische Produkte in ihrem Anwendungskontext zu analysieren. „Wenn wir die Präzisionsmedizin ernst nehmen, werden wir uns vom rein geräte- oder produktbezogenen Vertrieb wegbewegen und uns auf Modelle für den Patientenpfad konzentrieren, die von digitalen Lösungen begleitet werden“, sagt er.

Zukunft der Gesundheitsversorgung mit Daten und KI gestalten

Auch andere große Unternehmen beschreiten den Weg zu neuen digitalen Anwendungen, indem sie datengesteuerte Innovationen nutzen. „Gesundheitsdaten haben das Potenzial, das Gesundheitswesen zu revolutionieren und dynamische, lernende und nachhaltige Gesundheitssysteme zu ermöglichen“, betont Alexander Unger. Er leitet das Team Data Insights & Business Intelligence bei der AstraZeneca GmbH in der Deutschlandzentrale in Wedel bei Hamburg.

„Unsere Mission ist es, die Macht von Gesundheitsdaten und KI zu nutzen, um eine Zukunft der individualisierten Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, die von Wissenschaft und Daten angetrieben und informiert wird und darauf abzielt, die Ergebnisse für Patienten und Gesundheitssysteme weltweit deutlich zu verbessern“, sagt er. Zu den wichtigsten Themen, mit denen er sich befasst, gehört die Nutzung von (neuen) Datenquellen und Technologien zur Entwicklung von Evidenzkapazitäten, die sicherstellen, dass mehr Patienteninformationen berücksichtigt werden, was die Generierung von Evidenz in der realen Welt und neue wertbasierte Erstattungsstrategien ermöglicht.

Mit dem Gesetz zur digitalen Gesundheitsversorgung erhalten digitale Gesundheitsanwendungen in Deutschland einen Aufschwung, erklärt Unger. „Für uns als innovationsgetriebenes Biopharmaunternehmen ist es sehr interessant, wie digitale Gesundheitslösungen dazu beitragen können, integrierte ‚Gesundheitsökosysteme‘ jenseits der Medizin zu schaffen, die Vorteile und Unterstützung für die gesamte Patientenerfahrung bieten – von der Prävention über die Diagnose und Behandlung bis hin zu Genesung und Wellness.“

Digitale Tools und Technologien können nicht nur die Behandlungsergebnisse für die Patienten verbessern und eine bessere Versorgung entlang des Behandlungspfads ermöglichen, so Unger. „Sie tragen auch dazu bei, unsere klinischen Studien zu verändern und die Datengenerierung patientenorientierter und effizienter zu gestalten.“ So beschleunigen sie die Entwicklung und Zulassung neuer Therapieansätze, betont er. „Sie tragen dazu bei, dass mehr Patienteneinblicke aus der realen Welt berücksichtigt werden und diese reale Evidenz generieren“, unterstreicht Unger.

Dr. Alexander Unger sieht das Potenzial von Gesundheitswesen und die Verbindung mit künstlicher Intelligenz. © Astra Zeneca GmbH
Dr. Alexander Unger sieht das Potenzial von Gesundheitswesen und die Verbindung mit künstlicher Intelligenz. © Astra Zeneca GmbH

AstraZeneca baut das digitale Patientenregister „Helios“ auf

In Deutschland erkundet AstraZeneca verschiedene Wege der Dateninnovation. Gemeinsam mit Deutschlands größtem Krankenhausbetreiber Helios baut AstraZeneca ein weitgehend digitales Patientenregister für Herzinsuffizienz auf – das Helios Heart Registry (H2-Register). Das H2-Register ist wissenschaftlich unabhängig.

Wie werden Gesundheitsdaten gewonnen?

AstraZeneca unterstützt den Aufbau des Registers langfristig finanziell, während Helios für die Inhalte, Durchführung und Auswertung verantwortlich ist. Das Besondere am H2-Register ist, dass es gut strukturierte Daten von hoher Qualität liefern wird, die mit Patientenberichten angereichert sind. „Klinische Forschung und Versorgung sind nicht mehr zwei getrennte Datenströme – sie sind integriert. Dadurch erhält man einen größeren Reichtum an Daten aus der realen Welt“, so Unger. AstraZeneca hofft langfristig, registergestützte, randomisierte, kontrollierte Studien in Deutschland einfacher und schneller etablieren zu können. Die Integration verschiedener Datenströme ist auch das Ziel von J&J.

Indem man Datensätze zusammenbringt, die normalerweise nicht miteinander verbunden sind, generiert man einen tieferen Reichtum an realen Erkenntnissen.

Dr. Alexander Unger,
Director Data Insights & Business Intelligence, AstraZeneca GmbH

Laut Nieland werden digitale Lösungen sowie weitere Innovationen rund um Patientenpfadmodelle und wertorientierte Versorgung entwickelt. Innerhalb von J&J wird dies beispielsweise derzeit für Anwendungsfälle in der Onkologie wie Lungenkrebs untersucht. „Diese Indikation, die gleichzeitig auf chirurgische und medikamentöse Therapien angewiesen ist, ist bereits ein Beispiel für die Verflechtung von medizintechnischen und pharmazeutischen Maßnahmen sowie für das Potenzial der digitalen Unterstützung“, erklärt er.

Bestimmt künstliche Intelligenz wer operiert wird?

Gemeinsam mit klinischen Partnern in Deutschland erforscht J&J datengesteuerte Entscheidungspfade zur Unterstützung der medizinischen Entscheidungsfindung. „In der klinischen Praxis funktionieren heute viele Schnittstellen nicht so, wie sie sollten oder könnten. Unser Ziel ist es, intelligente, datengesteuerte Behandlungsoptionen bereitzustellen, die bewerten können, wann ein chirurgischer Eingriff sinnvoll ist, wann eine medikamentöse Therapie, aber auch welcher Patient für welche chirurgische oder medikamentöse Therapie geeignet ist“, sagt Nieland.

In einem weiteren Projekt strebt das Unternehmen eine enge Zusammenarbeit mit anderen Akteuren im Bereich der Wundinfektionen an, um standardisierte Protokolle zu Dokumentationszwecken zu erstellen. „Im Rahmen des P.I.L.O.T.-Projekts werden wir hoffentlich Partner im Norden finden, um diese klinische Herausforderung in einem gemeinsamen Netzwerk anzugehen.“ Die Zusammenarbeit mit erfahrenen Krankenhäusern wie dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) in Hamburg, die bei der Nutzung digitaler Infrastrukturen eine Vorreiterrolle einnehmen, sei bei diesem und anderen Prozessen entscheidend. „Wir als Industrie müssen uns eingestehen, dass wir von den Kliniken und ihren erfolgreichen Implementierungsstrategien viel lernen können.“

Datengesteuerte F&E für Präzisionsmedizin

Daten zu generieren, zu sammeln und zu teilen, um multimodale Behandlungsoptionen zu erforschen – dieser Trend ist besonders wichtig für Innovationstreiber wie das Hamburger Biotech-Unternehmen Evotec. „Für die Präzisionsmedizin müssen wir die Art und Weise, wie wir Gesundheit und Krankheit betrachten, neu überdenken. Das bedeutet: weg von den Symptomen, hin zu einer soliden Datenbasis. Nur so können wir zum einen die Früherkennung von Krankheiten drastisch verbessern und zum anderen wirklich wirksame Therapien entwickeln, die an den Ursachen und nicht an den Symptomen einer Krankheit ansetzen“, erklärt der ehemalige Geschäftsführer Werner Lanthaler.

Das Wichtigste ist aus seiner Sicht die Integration verschiedener modernster molekularer Technologien wie Gen- und Zelltherapie, künstliche Intelligenz oder mRNA auf einer gemeinsamen Plattform und deren datengesteuerte Nutzung. „Die Integration und Vernetzung von Daten entlang der gesamten Wertschöpfungskette der Arzneimittelentdeckung und -entwicklung ist eine Voraussetzung für echte Multimodalität – also die Offenheit für die wirklich beste Therapieoption. Das Rückgrat einer solchen Plattform ist die ständige Anreicherung der Datenbank“, betont Lanthaler.

Der ehemalige CEO von Evotec hält eine solide Datenbasis für die wichtigste Grundlage in dieser Entwicklung. © Evotec
Der ehemalige CEO von Evotec hält eine solide Datenbasis für die wichtigste Grundlage in dieser Entwicklung. © Evotec

Strategische Kooperationen gewinnen an Bedeutung

Evotec versteht sich als Plattformanbieter für all jene State-of-the-Art-Technologien, die zur Erforschung, Entwicklung und Herstellung der Präzisionsmedizin der Zukunft benötigt werden. In Hamburg wurde unter anderem das interne Forschungs- und Entwicklungszentrum für induzierte pluripotente Stammzellen (iPS) eingerichtet. Hier werden auf der Basis von Stammzellen verschiedene medizinischen Indikationen von neurodegenerativen Erkrankungen bis hin zu Herzkrankheiten erforscht. Für letztere wurde 2021 eine strategische Kooperation mit dem UKE geschlossen. Lanthaler: „Wir freuen uns über das exzellente Umfeld in unserer Region, sind aber offen für möglichst viele Partner, egal ob sie in Hamburg-Eppendorf oder Boston sitzen.“

Die Bedeutung neuer Wege der strategischen Zusammenarbeit gewinnt in der gesamten Wertschöpfungskette an Bedeutung. AstraZeneca zum Beispiel plant einen sogenannten Datathon, um bestehende Datensilos zu überwinden.

„Wir werden unsere eigenen Daten aus randomisierten kontrollierten Studien mit den Leistungsdaten einer deutschen Krankenkasse zusammenbringen“, sagt Unger. Als Pilotformat wird der Datathon eine kollaborative Veranstaltung sein, bei der gemischte Teams von Kostenträgern und AstraZeneca verschiedene Herausforderungen angehen. Unger räumt ein, dass dies eine unkonventionelle, aber vielversprechende Art der Forschung ist. „Das Interessante daran ist, dass man in einem 48-Stunden-‚Marathon-Coding‘-Event verschiedene Datensätze und Menschen zusammenbringt, die normalerweise nicht miteinander verbunden sind, und dass dies zu tieferen Einsichten in relevante medizinische Herausforderungen führen kann.“

Jens Nieland von J&J ist ebenfalls überzeugt, dass die Forschung den Weg für die weitere Umsetzung der Präzisionsmedizin ebnen wird. In diesem Zusammenhang kritisiert er jedoch die aktuelle deutsche Gesetzgebung als zu restriktiv, wenn es um die Nutzung von anonymen Gesundheitsdaten durch die Industrie geht. Bislang erlaubt die Regierung nur Krankenhäusern oder akademischen Akteuren den Zugriff auf Gesundheitsdaten für Forschungs- und Entwicklungszwecke, künftig gebündelt über das neu zu gründende Nationale Forschungszentrum für Gesundheitsdaten. Nieland: „Wenn die Industrie außen vor bleibt, wird ihr die wichtige Rolle abgesprochen, die wir spielen, um endlich datenbasierte Behandlungsstrategien in der klinischen Praxis umzusetzen.“

Text: Philipp Graf/Sandra Wirsching

Beitragsbild: © Adobe Stock, Have a nice day

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