Die kürzlich veröffentlichte Nationale Strategie für gen- und zellbasierte Therapien soll Akteure dieses zukunftsweisenden Feldes bundesweit vernetzen und Behandlungsansätze schneller in die klinische Versorgung bringen. An der Ausarbeitung der Strategie waren vier Fachleute aus Hamburg beteiligt. Was ist ihnen besonders wichtig?
Was sind Gen- und Zelltherapien?
Gen- und Zelltherapien (GCT) zählen zu den wichtigsten Innovationen in der biomedizinischen Forschung und der modernen Krankenversorgung. Sie haben das Potenzial, die Behandlung von Krebs, Autoimmunerkrankungen, neurodegenerativen Erkrankungen und vielen seltenen genetischen Krankheiten grundlegend neu aufzustellen.
Lebende Medikamente
Die neuartigen Therapien basieren auf Genen, Geweben oder Zellen und enthalten daher oft lebende Bestandteile. Die Produkte können besser als klassische Arzneimittel individuell auf Patientinnen und Patienten ausgerichtet werden. Da Gen- und Zelltherapien direkt an der genetischen Ursache eines Krankheitsprozesses ansetzen, eignen sie sich besonders für die Behandlung von Erkrankungen, die bisher nicht oder nur schlecht behandelbar waren.
In der EU werden sie rechtlich als Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMPs) eingestuft. Zuständig für die Zulassung ist die europäische Arzneimittelagentur EMA.
Heilen mit Zellen
Vereinfacht gesagt bedeutet eine Zelltherapie, Krankheiten mit lebenden Zellen zu behandeln: Veränderte und gezüchtete Zellen werden auf die Patientin oder den Patienten übertragen, um beschädigte Zellen zu reparieren oder zu ersetzen. Oder es werden umfunktionierte Zellen verabreicht, um deren Funktion zu erweitern.
Zelltherapien der ersten Generation verbessern bereits das Leben von Patientinnen und Patienten in aller Welt: Die Blutstammzelltransplantation ist in den Kliniken eine Routineanwendung. Der Einsatz fortgeschrittener Technologien ermöglicht die Entwicklung von Therapien gegen Blutkrankheiten, einschließlich einiger Arten von Leukämie und Lymphomen.
Tatsächlich gibt es bereits mehrere zugelassene Zelltherapien gegen Krebs, mit denen Betroffene aktuell behandelt werden. Bahnbrechend sind insbesondere die CAR-T-Zelltherapien: Hierbei entnimmt dem Patienten hoch spezialisierte Immunzellen, die T-Zellen. Diese werden im Labor mit einem künstlichen Molekül ausgestattet, dem chimeric antigen receptor, kurz CAR. Ausgerüstet mit dem Rezeptor können die CAR-T-Zellen gezielt Krebszellen oder andere Zellen im Patienten aufspüren und sie nachhaltig bekämpfen. Auch im Labor gezüchteter Gewebeersatz zählt zu den zellbasierten Therapien.
An den Genen ansetzen
Bei einer Gentherapie wird Erbinformation in Form von DNA oder RNA zur Behandlung eingesetzt. Dies kann bedeuten, dass man genetisches Material in die Zellen einer Patientin oder eines Patienten einschleust, entnimmt oder verändert, um eine vererbte oder erworbene Krankheit zu behandeln.
Mehrere Gentherapien wurden zur Behandlung verschiedener Erkrankungen zugelassen. Darunter sind einige Arten von Augenkrankheiten, die spinale Muskelatrophie und die Beta-Thalassämie, eine Blutkrankheit. GCTs sind bereits jetzt aus der klinischen Medizin nicht mehr wegzudenken. Viele Forschende und Kliniker sind davon überzeugt, dass sie ein neues Therapiezeitalter einläuten werden.
Was sind die Ziele der Nationalen Strategie für Gen- und Zelltherapien?
Obwohl Hunderte klinischer Studien zur Entwicklung von Gen- und Zelltherapeutika laufen, sind bisher nur wenige Produkte in Europa zugelassen. Es besteht großer Forschungsbedarf zur Verbesserung der Effizienz, der Sicherheit und der Verfügbarkeit. Grundlagenforschung und auch anwendungsorientierte Technologieentwicklung für GCT wird in Deutschland bereits erfolgreich betrieben. Allerdings bleibt die Translation, also die Überführung vielversprechender Forschungsansätze aus Forschung und Entwicklung in die Versorgung der Patienten, eine besondere Herausforderung.
Deutschland droht, in diesem Bereich medizinischer Schlüsseltechnologien international den Anschluss zu verlieren. Um hier wieder in eine führende Rolle zu kommen, müssen Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft stärker zusammenwirken. Das ist genau das Ziel der Nationalen Strategie für gen- und zellbasierte Therapien, die am 12. Juni im Berliner Futurium vorgestellt und an Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger überreicht wurde.
Rund 150 Fachleute aus ganz Deutschland beteiligt
Rund 150 Fachleute aus unterschiedlichen Akteursgruppen haben das 140-seitige Papier (PDF-Download) erarbeitet und einen Fahrplan zur Verbesserung der Krankenversorgung und Stärkung des Standorts Deutschland im Bereich der gen- und zellbasierten Therapien entwickelt. Moderiert und koordiniert hat diesen Multi-Stakeholder-Prozess das Berlin Institute of Health in der Charité (BIH). Für die Gestaltung und Umsetzung der Maßnahmen der Strategie stehen im Zeitraum 2023 bis 2026 stellt der Bund 44 Millionen Euro zur Verfügung, 4 weitere Millionen kommen vom Land Berlin.
Verbesserte Rahmenbedingungen in der Wertschöpfungskette schaffen
Die nationale Initiative will den zukunftsweisenden Medizinbereich der GCTs in allen Bereichen in Deutschland fördern und weiterentwickeln und benennt Maßnahmen. Dabei sollen die Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Therapien im Forschungsbereich, in der Herstellung und in der Anwendung verbessert werden.
Erreicht werden soll dies einerseits durch die Beratung der Politik sowie klare und bessere rechtliche Regelungen, aber auch durch eine engere Vernetzung von Universitäten, Forschungszentren und Industrie. Die Ausbildung von Fachkräften und der Technologietransfer sollen stark unterstützt werden.

Was bedeutet die Strategie für das Cluster Life Science Nord?
Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) ist in Norddeutschland das führende Zentrum für Forschung sowie der Anwendung von Gen- und Zelltherapien. Gleich vier Fachleute aus dem UKE waren an der Erstellung der Nationalen Strategie für GCT beteiligt.
Qualitativ hochwertige Therapien für eine sichere und effiziente Behandlung sicherstellen
Prof. Francis Ayuk
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
Die Klinik für Stammzelltransplantation am UKE ist mit jährlich rund 200 allogenen Blutstammzelltransplantationen das größte Stammzelltransplantationszentrum in Deutschland und eines der größten in Europa. Professor Francis Ayuk, Stellvertretender Klinikdirektor, wirkte als Sprecher der Arbeitsgruppe „Marktzulassung und Übergang in die Versorgung“ mit.
„In dem Multi-Stakeholder-Format an der Strategie zu arbeiten, war für mich neu und eine hervorragende Erfahrung“, sagt Ayuk. Tausende Patientinnen und Patienten profitierten schon heute in verschiedenen Feldern der Medizin von GCT, und viele neue GCT-Therapien hielten gerade Einzug in die Klinik. Für den leitenden Oberarzt haben alle Maßnahmen Priorität, die eine qualitativ hochwertige, sichere und effiziente Behandlung für Patientinnen und Patienten sicherstellen.
Flexible Erstattungs- und Versorgungsmodelle notwendig
„Wir brauchen aber auch nachhaltige Translationsprozesse“, so Ayuk. Verbunden damit sei ein Abbau bürokratischer Hürden und eine adäquate Vergütung über flexible Erstattungs- und Versorgungsmodelle. „Wenn wir diesen Komplex in der Versorgung zusammenbekommen, haben wir viel gewonnen.“ Seine UKE-Kollegin Katja Weisel, Professorin und Stellvertretende Klinikdirektorin am Zentrum für Onkologie und Universitäres Cancer Center Hamburg (UCCH), war ebenfalls in der Arbeitsgruppe beteiligt.
An der Klinik für Stammzelltransplantation des UKE ist Boris Fehse Professor für Zell- und Gentherapie. Er forscht unter anderem zu sicheren Methoden der genetischen Modifikation von Blutzellen für Anwendungen in der Gentherapie und der Krebsforschung. Zusammen mit der Organoid-Forscherin Madeleine Bunders war Fehse in der Arbeitsgruppe „Forschung und Entwicklung“ der Nationalen GCT-Strategie beteiligt.
UKE zählt zu den größten CAR-T-Zentren Deutschlands
„Das UKE ist eines der größten CAR-T-Zelltherapie-Zentren in Deutschland“, sagt Fehse. Nahezu 200 Patienten seien bereits mit CAR-Ts behandelt worden. Bisher werden die genetisch veränderten Immunzellen zur Therapie verschiedener bösartiger Erkrankungen des Blut- und Lymphsystems erfolgreich eingesetzt. „Am UKE wurden kürzlich weltweit erstmals Patienten mit Multipler Sklerose mit CAR-T-Zellen behandelt, die B-Zellen attackieren, welche eine Schlüsselrolle bei der Erkrankung spielen“, sagt Fehse.
Weltweit erstmals Patienten mit Multipler Sklerose mit CAR-T-Zellen in Hamburg behandelt
Prof. Boris Fehse
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
Fehse ist davon überzeugt, dass die nationale Strategie die wachsende Bedeutung der GCTs stärker ins Bewusstsein aller Beteiligten, allen voran in der Politik, den Behörden und bei den Kostenträgern, rücken wird. „Wir erwarten eine bessere finanzielle Förderung sowohl für die Entwicklung der Therapien als auch für die nötigen klinischen Studien. Zudem hoffen wir, dass die nun klar definierten Abstimmungswege dazu beitragen, Bürokratie abzubauen und so die Forschung zu neuen Therapien zu beschleunigen.“ Davon dürfte dann auch der Standort Norddeutschland sehr profitieren.
Fehses Team hält eine Reihe von Patenten im GCT-Bereich und möchte mit dem UKE-Team eine Gentherapie zur Behandlung von HIV in die klinische Entwicklung bringen.
Text: Philipp Graf
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Stammzellmedizin im Norden: Der Report
Beitragsbild: Bettina Stark-Watzinger, Bundesministerin für Bildung und Forschung, stellte die gedruckte Version der Nationalen Gen- und Zelltherapiestrategie zusammen mit zahlreichen Expert:innen vor. © Svea Pietschmann