OP der Zukunft: Die Stunde der Roboter

OP der Zukunft: Die Stunde der Roboter

Seit dem Auslaufen von relevanten Patenten beim Branchenprimus Intuitive ist der Markt für Chirurgie-Robotiksysteme in Bewegung geraten. Hochinnovative Medizintechnik-Forschungsprojekte in Lübeck und Kiel arbeiten an der nächsten Generation von Chirurgie-Robotern, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sind.

Markt für robotergestützte Chirurgie ist in Bewegung geraten

Roboter werden schon seit vielen Jahren in der Chirurgie eingesetzt. Instrumente wie das Da-Vinci-Operationssystem des US-amerikanischen Branchenführers Intuitive Surgical ermöglichen es Chirurgen, mehrere Roboterarme über eine handbetriebene Konsole zu steuern, und sie geben ihnen bei Operationen in schwer zugänglichen Bereichen mehr Geschicklichkeit und Sicht.

Doch die robotergestützte Chirurgie ist in Bewegung geraten: Seitdem relevante Patente von Intuitive abgelaufen sind, kommen zunehmend neue Systeme von einer wachsenden Zahl Hersteller auf den Markt. Dies ermöglicht einerseits einen breiteren Zugang zu dieser Technologie und erhöht andererseits den Innovationsdruck auf die Hersteller. Akademische Forscher, Medizintechniker und Kliniker in Schleswig-Holstein mischen ebenfalls in diesem dynamischen Feld mit. Unterstützt von der Landesregierung und mit EU-Fördermitteln wollen sie die etablierte robotergestützte Operationstechnik deutlich verbessern und eine neue Generation von Medizinrobotern im Zeitalter von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz entwickeln.

Roboter-Chirurgie-System mit einem anatomischen Modell. © Fraunhofer IMTE
Roboter-Chirurgie-System mit einem anatomischen Modell. © Fraunhofer IMTE

LIROS in Lübeck: Realitätsnaher OP als Forschungs- und Entwicklungsplattform

Ein Besuch in der Lübecker Fraunhofer-Einrichtung für Individualisierte und Zellbasierte Medizintechnik IMTE: Was derzeit nur als VR-Simulation existiert, wird bald Realität sein: ein voll funktionsfähiger Operationssaal für die Roboterchirurgie. Georg Männel, Gruppenleiter Training und Automatisierung am IMTE, lässt den Besucher mit Hilfe einer Virtual-Reality-Brille durch eine beeindruckende Simulation des Operationssaals und der angrenzenden Werkstatt schreiten. In wenigen Wochen werden hier die echten Roboter und die gesamte Inneneinrichtung einziehen.

Der Operationssaal ist das Herzstück von LIROS, dem Lübeck Innovation Hub Robotic Surgery. Das Projekt, das Männel gemeinsam mit der Ingenieurin Svenja Ipsen, Gruppenleiterin Robotische Intervention am IMTE, und Tobias Keck, Direktor der Chirurgischen Klinik am Campus Lübeck des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH), koordiniert, wurde von der schleswig-holsteinischen Landesregierung mit 3,5 Mio. Euro aus REACT-EU-Mitteln gefördert.„Wir planen, ein zwei- und ein vierarmiges Robotersystem in unserem realitätsnahen Operationssaal zu installieren, um ein breites Spektrum robotergestützter Eingriffe zu simulieren“, sagt Männel. LIROS wird eine einzigartige Forschungs- und Entwicklungsplattform sein und dient auch als medizintechnisches Testlabor für die Industrie.

Technologietransfer und Trainingsmöglichkeiten

„Unser Ziel ist es, den Technologietransfer zu erleichtern und Studenten und Chirurgen praktische Trainingsmöglichkeiten zu bieten“, sagt Männel. Deshalb arbeiten die Fraunhofer-Forscher eng mit dem Team um Tobias Keck und der Chirurgischen Klinik am UKSH zusammen. Keck ist ein großer Verfechter der robotergestützten Chirurgie und hat verschiedene Systeme in der klinischen Praxis im Einsatz. Er setzt sich auch für die Erstellung eines Ausbildungsplans für die robotergestützte Chirurgie ein.

Georg Männel: Der Medizintechniker ist Gruppenleiter Training und Automatisierung am Fraunhofer IMTE in Lübeck. © Philipp Graf
Georg Männel: Der Medizintechniker ist Gruppenleiter Training und Automatisierung am Fraunhofer IMTE in Lübeck. © Philipp Graf

„Bei LIROS geht es aber nicht nur um die Robotik in der Chirurgie, sondern um den gesamten chirurgischen Prozess, den wir adressieren wollen. Hier integrieren wir vieles, was wir am Fraunhofer IMTE machen, basierend auf der Verknüpfung von KI und Robotik“, sagt Philipp Rostalski, Direktor des Fraunhofer IMTE.

Automatisierte Trainingsauswertung

Rostalski weist darauf hin, dass Prozessoptimierung und automatisierte Trainingsauswertung dabei eine wichtige Rolle spielen werden. Mit einem Motion-Capturing-System für den gesamten Operationssaal soll beispielsweise analysiert werden, wie sich das OP-Team und die Roboter bewegen und verhalten – diese Daten können für Prozess- und Trainingsinnovationen genutzt werden. Auch die Vernetzung von medizintechnischen Geräten und die Untersuchung von Usability-Aspekten zur Erhöhung der Benutzerfreundlichkeit und Sicherheit im Operationssaal stehen im Fokus.

Innerhalb von LIROS sind die Forscher des Fraunhofer IMTE eng mit den Forschungspartnern auf dem Campus vernetzt, insbesondere mit dem UKSH, der Universität Lübeck, der Technischen Hochschule Lübeck, dem Fraunhofer-Institut für Digitale Medizin MEVIS und der DFKI-Außenstelle Lübeck. „Unsere ‚Patienten‘ werden individuelle anatomische Modelle und Phantome sein, die am Fraunhofer IMTE im 3D-Druckverfahren hergestellt werden“, sagt Rostalski.

OP der Zukunft am Campus Kiel des UKSH

Gedruckte oder virtuelle Modelle in 3D spielen auch in einer robotergestützten Chirurgie eine wichtige Rolle, die am Campus Kiel des UKSH entwickelt wird. Das Projekt mit dem Titel „Operationssaal der Zukunft“ wird wie das LIROS-Projekt von der Landesregierung über das Förderprogramm REACT-EU finanziert (Budget: 3,4 Mio. Euro). In Kiel sind die chirurgischen Disziplinen bei minimalinvasiven und robotergestützten Verfahren unter dem Dach des Kurt-Semm-Zentrums, das das Projekt koordiniert, eng vernetzt. Beteiligt sind auch die Universität Kiel sowie die Firmen Vater Solution und MiE Medical Imaging Electronics.

Der OP der Zukunft konzentriert sich auf zwei Teilprojekte, die in absehbarer Zeit die Chirurgie verbessern sollen:

Verbesserter Informationsfluss durch KI-basierte Augmented Reality

Zum einen eine sogenannte KI-basierte Augmented-Reality-Lösung für eine noch gezieltere und schonendere Tumorchirurgie. Die entwickelte Software soll helfen, die auffälligen Areale aus der PET-CT-Bildgebung direkt im Live-Operationsbild zu visualisieren oder dem Chirurgen eine Navigationshilfe zu geben.

Die Anreicherung der Bildinformationen aus der Computertomographie wird dem Chirurgen nicht nur verbesserte Informationen über das Operationsgebiet liefern, sondern auch die 3D-Navigation unterstützen. Dieses Verfahren soll dazu beitragen, tumorpositive Lymphknoten und andere Tumorstrukturen während der Operation leichter zu identifizieren. „Die hochpräzise Registrierung und visuelle Überlagerung von 3D-Tumorpositionen aus dem CT in das Live-Bild unterstützt die Chirurgen während der Operation und ermöglicht es ihnen, Tumorgewebe so schnell und sicher wie möglich zu identifizieren und zu entfernen. Das verkürzt die Operationsdauer und die Belastung für die Patienten“, erklärt Reinhard Koch, der an der Technischen Fakultät der Universität Kiel für das erste Teilprojekt verantwortlich ist.

Präzisere Arbeitsabläufe durch Roboter-Assistenzsysteme

Das zweite Teilprojekt, das der Robotikspezialist Thomas Meurer koordiniert, beschäftigt sich mit der Entwicklung eines KI-basierten Roboter-Assistenzsystems zur Optimierung der Arbeitsabläufe und der Infektionskontrolle im OP. Bisher bestehen die aktuellen Chirurgie-Roboter nur aus einem System, das über eine Konsole ferngesteuert wird. Die OP-Assistenz steht hingegen nach wie vor direkt am Patienten und arbeitet dem Chirurgen oder der Chirurgin zu. Die Technologie, die derzeit entwickelt wird, wird einen zweiarmigen Assistenzroboter ermöglichen.

Für die Patienten soll die Operation dadurch präziser, infektionssicherer, schneller und schonender werden. Dies kann die Heilungszeit im Vergleich zu herkömmlichen offenen Operationsverfahren verkürzen. Sensoren und KI sorgen dafür, dass sich die beiden Roboterarme dabei nicht gegenseitig behindern. Gleichzeitig müssen die Instrumente der Chirurgen, wie etwa Klemmen, bei allen Assistenzarbeiten in Position bleiben.

Das Kieler Chirurgie-Roboter-Team um Thomas Meurer (links). © Jürgen Haaks
Das Kieler Chirurgie-Roboter-Team um Thomas Meurer (links). © Jürgen Haaks/CAU

Chirurgie-Roboter für kleinere Krankenhäuser erschwinglich machen

Die beiden Forschungskonsortien in Lübeck und Kiel wollen eng zusammenarbeiten und dazu beitragen, Schleswig-Holstein zu einem wichtigen Standort für Forschung und Entwicklung in der Roboterchirurgie zu machen. Ein Beispiel dafür ist der Einsatz einer neuen Roboterplattform, die auf einem neuartigen OP-Roboter namens Dexter basiert, der von der Schweizer Firma Distalmotion entwickelt und vermarktet wird. Das System verfügt über offene Schnittstellen und bietet den Experten eine optimale Plattform für die Entwicklung und Erprobung von Innovationen. „Wir wollen die Chirurgierobotik demokratisieren und für kleinere Krankenhäuser erschwinglich machen“, sagt Klaus Feldmann, Vertriebsleiter Deutschland. Die Verbindung zu den Krankenhäusern in Norddeutschland ist so vielversprechend, dass Distalmotion sein deutsches Büro in Hamburg eröffnet hat.

Philipp Rostalski, der auch Vorstandsmitglied des Life Science Nord e. V. ist, sagt: „Ich bin davon überzeugt, dass die Achse Kiel-Lübeck-Hamburg ein enormes Potenzial im Bereich der Operationsrobotik hat. Es besteht das Potenzial für ein Ökosystem, das wir weiter stärken wollen, um es als Schwerpunkt für Forschung und Entwicklung im Cluster Life Science Nord zu etablieren.“

Text: Philipp Graf

Beitragsbild: © Model Eric Aderhold

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