Wie nachhaltig sind digitale Verfahren und Arzneimittel präziser Medizin?

Wie nachhaltig sind digitale Verfahren und Arzneimittel präziser Medizin?

Neue Technologien finden immer mehr Einzug ins Gesundheitswesen, wie etwa digitale Verfahren und Arzneimittel präziser Medizin (VAPM). Das sind technologiegestützte, medizinische Ansätze, bei denen digitale Tools – wie Algorithmen, Datenplattformen oder Künstliche Intelligenz – für individualisierte Diagnostik- und Therapieverfahren sowie gezielte Arzneimittel eingesetzt werden. Doch wie nachhaltig ist die Präzisionsmedizin? Und welchen Einfluss hat KI? Eine Analyse entlang der drei Dimensionen ökologisch, ökonomisch und sozial.

Digitale Zwillinge, die den individuellen Erfolg von Krebstherapien vorhersagen oder auf Grundlage der Biomarker einer Person das Risiko für Adipositas oder andere Krankheiten ableiten können: Das ermöglichen Verfahren und Arzneimittel präziser Medizin, kurz VAPM. Mit ihnen sollen Behandlungen optimal auf die genetischen, biologischen und klinischen Merkmale der Patienten abgestimmt werden. Dabei sind digitale Tools und Künstliche Intelligenz zunehmend wichtige Treiber für die Optimierung und breitere Anwendung. Welche positiven und negativen Auswirkungen hat diese Entwicklung? Auf die Gesellschaft, aufs Klima und auf die Angestellten? Kurzum: wie sozial, ökonomisch und ökologisch sind VAPM? Anhand dieser drei Dimensionen von Nachhaltigkeit werden VAPM im Folgenden betrachtet:

Sozial

Laut einer Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft verbringen Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte täglich durchschnittlich drei Stunden mit Dokumentationsarbeiten – Zeit, die ihnen somit nicht für die Patientenversorgung zur Verfügung steht.

Soziale Nachhaltigkeit bezeichnet das langfristige Sicherstellen von fairen, sicheren und gerechten Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle Menschen – mit Fokus auf Gleichheit, Teilhabe, Arbeitsrechte, soziale Sicherheit und zwischenmenschlichen Respekt.

Hier können digitale Tools und Künstliche Intelligenz (KI) helfen, Prozesse zu optimieren, Diagnosen zu verbessern und Ressourcen effizienter zu nutzen – beispielsweise durch automatisierte Dokumentation, Dienstplanerstellung oder OP-Management. Das entlastet medizinisches Personal und schafft mehr Zeit für die Patientenversorgung. Zudem kann KI die Forschung zu seltenen Krankheiten durch datenbasierte, einrichtungsübergreifende Vernetzung voranbringen. Telemedizin und digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) tragen zur besseren Versorgung in strukturschwachen Regionen bei, indem sie bei der Diagnose und Behandlung unterstützen. Davon profitieren insbesondere immobile Menschen. Auch mit Blick auf den demografischen Wandel werden Telemedizin und Videosprechstunden zukünftig essenziell, um ein gleichbleibendes Niveau der Versorgung aufrecht erhalten zu können.

Telemedizin kann Versorgungslücken schließen, etwa in ländlichen Gebieten.
Quelle: KLYMENKO OKSANA – stock.adobe.com

Gleichzeitig wirft der Einsatz von KI-basierten Tools ethische Fragen auf: Wer trägt die Verantwortung für Entscheidungen der künstlichen Intelligenz, und wie wird mit möglichen Fehlern umgegangen? Es besteht die Gefahr, dass durch KI diskriminierende Muster reproduziert oder Menschen auf genetische Merkmale reduziert werden. Deshalb muss es klare Regeln geben, die den Schutz von Patientendaten und die Wahrung der Menschenwürde sicherstellen, ohne dabei Innovationen zu blockieren. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist der EU AI Act, der rechtliche Leitplanken für den Einsatz von KI setzt. Gleichzeitig müssen Ärztinnen und Ärzte ausreichend Kompetenzen entwickeln, um KI-Entscheidungen kritisch hinterfragen und interpretieren zu können.

Zudem zeigen sich im Gesundheitswesen häufig Vorbehalte gegenüber KI, etwa aufgrund mangelnder Transparenz oder unzureichender Schulungen. Auch die Sorge, durch KI ersetzt zu werden, ist verbreitet – dabei wird das Berufsbild vielmehr verändert, indem der Fokus stärker auf zwischenmenschliche, kreative und lösungsorientierte Kompetenzen gelegt wird.

Ökologisch

Das deutsche Gesundheitswesen ist für rund 5,2 % der nationalen Treibhausgasemissionen verantwortlich – ein beachtlicher Anteil, der zeigt, wie groß das Einsparpotenzial in diesem Sektor ist. Besonders ins Gewicht fallen dabei Medizinprodukte und ihre Lieferketten, die mit 71 % den größten Beitrag zu den Emissionen innerhalb des Gesundheitssektors leisten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie wichtig ökologische Strategien auch in Bereichen wie der Präzisionsmedizin sind.

Ökologische Nachhaltigkeit bedeutet, die natürlichen Lebensgrundlagen so zu nutzen, dass sie langfristig erhalten bleiben und auch zukünftigen Generationen zur Verfügung stehen.

Ein zentraler Hebel zur Reduktion von Emissionen liegt in der Digitalisierung. Digitale Lösungen wie Telemedizin, E-Health-Anwendungen oder die elektronische Patientenakte (ePA) können den Ressourcenverbrauch deutlich senken. So zeigte eine Studie, dass durch E-Health-Angebote 6 bis 8 % der prognostizierten Verkehrs- und Energieemissionen im Gesundheitssektor bis 2030 vermieden werden könnten. Auch die Einführung der ePA birgt Einsparpotenzial: Hochgerechnet lassen sich damit jährlich rund 6.000 Tonnen CO₂-Äquivalente einsparen, vor allem durch Einsparungen beim Papierverbrauch, weniger Transportwege (etwa für Arztbriefe) und die Vermeidung unnötiger Doppeluntersuchungen. Gleichzeitig profitieren Patienten und Ärzte durch den sofortigen Zugriff auf relevante Gesundheitsdaten.

Quelle: vetre – stock.adobe.com

Doch die Digitalisierung bringt nicht nur Vorteile für die Umwelt mit sich. Ein oft unterschätzter ökologischer Nachteil ist der sogenannte Rebound-Effekt: Die zunehmende Nutzung digitaler Technologien führt zwar zu Effizienzgewinnen, steigert jedoch auch die Nachfrage nach IT-Infrastruktur. Neue digitale Produkte und Anwendungen entstehen, und damit auch ein erhöhter Energiebedarf – etwa durch den Betrieb zahlreicher Rechenzentren, die große Mengen an Strom und Ressourcen verbrauchen. Das führt paradoxerweise dazu, dass durch den Digitalisierungsschub neue Emissionstreiber entstehen können.

Ökonomisch

Ein effizienteres Gesundheitssystem und weniger Kosten – VAPM werden häufig als Versprechen dafür gesehen. Ob sie dieses Potenzial tatsächlich erfüllen, ist jedoch noch unklar, belastbare Belege und Langzeiterkenntnisse fehlen. Forschende Pharmaunternehmen erwarten zumindest eine gesteigerte Effizienz und einen sinnvolleren Einsatz von Ressourcen. Die Bundesärztekammer betont, dass Einsparungen durch Präzisionsmedizin schwer abschätzbar sind, da sie oft erst langfristig sichtbar werden, während Kosten sofort anfallen.

Ökonomische Nachhaltigkeit bedeutet, wirtschaftliche Aktivitäten so zu gestalten, dass sie langfristig tragfähig sind und zukünftigen Generationen stabile Grundlagen sichern.

In der EU rücken zunehmend kleine, molekulargenetisch definierte Patientengruppen in den Fokus klinischer Forschung, begünstigt durch beschleunigte Zulassungsverfahren für Präzisionsmedikamente. Kritiker warnen jedoch, dass dadurch Therapien mit noch begrenzter Datenlage früher auf den Markt gelangen könnten.

Patienten müssen daher ausreichend geschützt werden, sollen gleichzeitig aber auch die Vorteile der Präzisionsmedizin nutzen können. Denn durch die gezielte Behandlung, wirksame Prävention oder das Vermeiden von Krankheitsfolgen kann eine schnellere Reintegration der Patienten in Alltag und Berufsleben ermöglicht werden. Dadurch lassen sich nicht nur Produktionsausfälle verringern, sondern auch die Arbeitskraft und das Steueraufkommen stabilisieren – ein Gewinn sowohl für das Gesundheitssystem als auch für die Betroffenen selbst.

Quelle: Setareh – stock.adobe.com

Einen entscheidenden Beitrag zu dieser Entwicklung kann KI leisten: Immer präzisere Früherkennung und Risikovorhersage, etwa bei Adipositas im Kindesalter, ermöglichen gezielte Prävention und erhebliche Kosteneinsparungen. Beispielsweise wird es möglich, vorherzusagen, wie Krebspatienten auf eine bestimmte Chemotherapie reagieren. Schätzungen zufolge können dadurch in den nächsten zehn Jahren 74 Mrd. Euro eingespart werden. Auch die elektronische Patientenakte (ePA) verbessert den Informationsaustausch zwischen Ärzten, vermeidet Doppeluntersuchungen und entlastet Patienten.

Trotz dieser Chancen warnt KI-Experte und CTO der AI-Spezialisten Arne Janning im 10xD – Digital Health Magazine: „Der häufigste Fehler ist die mangelnde Integration in bestehende Systeme. Es wird viel Geld in KI-Lösungen investiert, ohne vorher die Prozesse zu analysieren, die IT-Infrastruktur anzupassen oder Mitarbeiter ausreichend zu schulen.“

Fazit

Im Kontext der Nachhaltigkeit digitaler Verfahren und Arzneimittel präziser Medizin wird deutlich, dass insbesondere KI eine zentrale Rolle einnehmen kann. Denn ihr Einsatz birgt enormes Potenzial, das Gesundheitswesen zu verändern, muss jedoch mit Bedacht und strategischem Vorgehen erfolgen. Der Versuch, viele Bereiche gleichzeitig zu optimieren, kann schnell zu Überforderung und Ineffizienz führen. Gleichzeitig zeigt sich: Wird KI gezielt integriert, kann sie Prozesse automatisieren, das medizinische Personal spürbar entlasten und so in Zeiten des Fachkräftemangels einen entscheidenden Beitrag leisten. Richtig eingesetzt, schont KI nicht nur soziale und ökonomische Ressourcen, sondern kann auch ökologisch wirksam sein – etwa durch den effizienteren Einsatz energieintensiver medizinischer Infrastruktur. Voraussetzung ist Vertrauen – sowohl seitens der Anwender als auch der Patienten.

Beitragsbild: Flashizzle/peopleimages.com – stock.adobe.com

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