Revolutionäres Werkzeug für die Proteinforschung

Revolutionäres Werkzeug für die Proteinforschung

Die KI-basierte Software AlphaFold2 hat die Erforschung von 3D-Proteinstrukturen grundlegend verändert. Forschende am EMBL Hamburg sind mittendrin in dieser Proteinfaltungsrevolution und arbeiten an verbesserten Anwendungen der Software.

Wie hat AlphaFold2 die Strukturbiologie verändert?

Für Strukturbiologenteams in aller Welt markierte der Juli 2021 einen Wendepunkt: Das in London ansässige Unternehmen DeepMind – das zur Google-Muttergesellschaft Alphabet gehört – veröffentlichte ein KI-basiertes Werkzeug namens AlphaFold2. Der Deep-Learning-Algorithmus kann die dreidimensionale Gestalt von Proteinen anhand ihrer genetischen Sequenz mit großer Genauigkeit vorhersagen. Dies hat die Arbeit von Tausenden von Biologen weltweit verändert. Forschende in Norddeutschland sind Teil dieser KI-Proteinfaltungsrevolution.

Einer von ihnen ist Jan Kosinski, ein Strukturbioinformatiker, der in der Hamburger Außenstelle des Europäischen Laboratoriums für Molekularbiologie (EMBL) eine Forschungsgruppe leitet. Er ist auch Mitglied des Centre for Structural Systems Biology (CSSB) am DESY. Kosinskis Leidenschaft ist es, knifflige biomolekulare Rätsel zu lösen – sprich, die genaue 3D-Architektur von Proteinen aufzuklären.

Alphafold2 war ein bahnbrechender Moment für uns.

Dr Agnieszka Obarska-Kosińska
EMBL Hamburg and MPI of Biophysics

Der menschliche Kernporenkomplex, den Kosinskis Team zusammen mit dem Team von Martin Beck vom Max-Planck-Institut für Biophysik sowie weiteren Kollegen entschlüsselt hat war ein strukturbiologisches Meisterwerk. Der Kernporenkomplex (NPC) ist ein wahrer molekularer Riese, der auf der Membran sitzt, die den Zellkern vom Zytoplasma trennt. Er hat die Form eines Donuts und fungiert sowohl als Tor- als auch als Kontrollpunkt für Moleküle, die zwischen dem Zytoplasma und dem Zellkern reisen. Für Strukturbiologen ist der menschliche NPC ein anspruchsvolles, aber spannendes 3D-Puzzle mit etwa 30 verschiedenen Proteinen, die jeweils in mehreren Kopien vorliegen. Dies ergibt etwa 1000 Puzzleteile.

Die 3D-Struktur eines Giganten entschlüsselt

Der Schlüssel zur Aufklärung der Architektur des Proteinkomplexes lag in der Kombination mehrerer experimenteller und rechnergestützter Methoden. „AlphaFold2 war ein bahnbrechender Moment für uns“, sagt Agnieszka Obarska-Kosińska, Postdoc in Becks und Kosinskis Labor, die die molekulare Modellierung durchführte. „Vorher wussten wir nichts über die Struktur vieler Proteine im NPC. Man kann ein Puzzle nicht zusammensetzen, wenn man nicht weiß, wie die Teile aussehen. Aber AlphaFold2, kombiniert mit anderen Ansätzen, ermöglichte es uns, diese Formen vorherzusagen“. Das daraus resultierende Modell, das im Topjournal „Science“ veröffentlicht wurde, war so vollständig und detailliert, dass es den Forschenden ermöglichte, zeitaufgelöste Molekülsimulationen zu erstellen, die mehr Licht in die Funktionsweise des NPC brachten.

AlphaFold2 als Gamechanger

Jan Kosinski sieht drei Aspekte, die AlphaFold2 zu einem Gamechanger in der Proteinforschung für ihn und sein Team gemacht haben:

  • „Es beschleunigt unsere Arbeit – wir bekommen einen guten Eindruck davon, wie das Protein, an dem wir arbeiten, aussieht, und zwar innerhalb von Minuten anstatt Monaten oder Jahren“, sagt er.
  • „Es macht unsere Arbeit einfacher“,
  • „und schließlich macht unsere Arbeit mit Alphafold2 mehr Spaß – viele technische und langwierige Schritte sind jetzt automatisiert, sodass wir uns mehr auf unsere biologischen Fragen konzentrieren können!“

Wie AlphaFold2 weiterentwickelt wird

Seit seinem sensationellen Debüt wurde AlphaFold2 natürlich noch weiterentwickelt. Kosinski betont, dass die Fachleute nun besser verstehen, wo die Software am besten funktioniert und in welchen Bereichen sie experimentelle Methoden nicht ersetzen kann. Während AlphaFold2 beispielsweise eine Vorstellung von der Struktur eines Proteins vermittelt, liefern Röntgenstrahlen und hochauflösende Kryo-Elektronenmikroskopie-Methoden (Kryo-EM) in der Regel immer noch die genaueren Strukturen, die für das Verständnis enzymatischer Reaktionen oder die Entwicklung von Medikamenten benötigt werden.

DeepMind und das Europäische Institut für Bioinformatik des EMBL (EMBL-EBI) haben sich zusammengetan, um eine Datenbank zu erstellen, in der die Vorhersagen für die wissenschaftliche Gemeinschaft frei zugänglich sind. Die Datenbank umfasst inzwischen über 200 Millionen Proteinmodelle. „Das heißt, wir haben Modelle für fast jedes katalogisierte Protein, das der Wissenschaft bekannt ist“, sagt Kosinski.

Nachdem er den Strukturcode des NPC geknackt hat, konzentriert sich seine Gruppe am EMBL Hamburg nun auf noch schwierigere molekulare Rätsel der Infektionsbiologie. „Wir verwenden AlphaFold2 in Kombination mit unserer eigenen Software, um die Strukturen von Viren wie Influenza und Lassa zu modellieren und ihre Interaktionen mit menschlichen Proteinen zu kartieren. Außerdem haben wir gerade ein größeres Projekt über den Malariaparasiten begonnen, das vom CSSB finanziert wird.“

EMBL Hamburg und DESY sind Hotspot der Strukturbiologie

Jan Kosinski ist überzeugt, dass Hamburg das Potenzial hat, sich zu einem Hotspot für KI-basierte Strukturbiologie zu entwickeln. Am EMBL Hamburg und am CSSB gibt es bereits eine Reihe von KI-basierten Projekten in der Strukturbiologie. Auch auf dem DESY-Campus gibt es eine wachsende KI-Community, zu der auch Forschende aus anderen Disziplinen wie der Physik oder dem Messgerätebau gehören. „Ich denke, unser Potenzial, KI-Fachleute oder Studierende anzulocken, liegt darin, dass wir wichtige Probleme in der Grundlagenforschung angehen sowie Fragen, die für die menschliche Gesundheit relevant sind.“

Text: Philipp Graf

Beitragsbild: © Agnieszka Obarska-Kosińska

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