Mit Bioinformatik und KI gegen Krebs

Mit Bioinformatik und KI gegen Krebs

In kaum einem anderen Bereich ist das Konzept der personalisierten Medizin so sehr zur klinischen Realität geworden wie im Kampf gegen Krebs. Die Digitalisierung und das Aufkommen leistungsfähiger Datenanalyse-Tools wie das maschinelle Lernen treiben diese Entwicklung voran. Eine Auswahl von Akteuren aus Norddeutschland, die in diesem Bereich führend sind.

Wie wird Bioinformatik in der Präzisionsonkologie eingesetzt?

Die Grundidee der Präzisionsonkologie im Kampf gegen Krebs besteht darin, Behandlungen zu entwickeln, die auf die molekularen und zellulären Merkmale des Tumors einer Person ausgerichtet sind. Die Frage, wo im Körper ein Tumor entstanden ist, hat an Bedeutung verloren. Stattdessen konzentrieren sich die Behandlungskonzepte auf das molekulare Profil der Krebszellen im Körper.  

Doch damit der Traum von der Präzisionsonkologie in vollem Umfang verwirklicht werden kann, müssen solche Therapien mehr Menschen mit Krebs helfen als die 5 bis 10 Prozent, die derzeit davon profitieren. Künstliche Intelligenz und andere leistungsstarke Bioinformatik-Anwendungen gelten als Wendepunkt in der Präzisionskrebsmedizin. Diese Technologien helfen bei der Analyse der riesigen und komplexen Datensätze, die in großen elektronischen Gesundheitsdatenbanken zu finden sind. Praktisch jeder Arzneimittelentwickler nutzt intelligente Ansätze für maschinelles Lernen und Big-Data-Analytik, um seine Forschung und Entwicklung voranzutreiben.

Wie wichtig sind hochwertige Multi-omics-Datensätze?

In einer Welt, die von exponentiell wachsendem Wissen geprägt ist, sind die Herkunft und die Qualität der Daten von großer Bedeutung. Hartmut Juhl, Gründer und Geschäftsführer der Indivumed GmbH, sieht sein Unternehmen als Schlüsselakteur für die Krebsforschung und die Entwicklung neuer Therapeutika, da es über ein wertvolles Gut verfügt: eine einzigartige Tumordatenbank. „Sie ist eine mächtige Ressource, die die Komplexität der Krebsbiologie für jeden Patienten vollständig abbildet. Das dient dazu, die Krankheit zu verstehen, den Krebs mit verfügbaren Mitteln zu bekämpfen – und um neue Wirkstoffe zu entwickeln“, sagt Juhl.

Bis zu 30 Prozent der Patienten erhalten Empfehlungen, die auf ihrem molekularen Tumorprofil basieren.

Prof. Dr. Carsten Bokemeyer
Direktor des University Cancer Center HAMBURG (UCCH)
Prof. Dr. Carsten Bokemeyer steht fest hinter den neuen Bioinformatik-Tools und KI-Algorithmen. © Jörg Müller
Prof. Dr. Carsten Bokemeyer steht fest hinter den neuen Bioinformatik-Tools und KI-Algorithmen. © Jörg Müller

Sind Tumordatenbanken der Schlüssel?

In den letzten 20 Jahren hat der Hamburger Biobanking-Spezialist ein weltweites Netzwerk von angeschlossenen Kliniken aufgebaut, die Gewebe von Krebspatienten in gefrorenen Proben sowie Blutproben und weitere relevante klinische Daten gewinnen. Der Schlüssel für die hohe Qualität der Proben in der Indivumed-Biobank war die Implementierung von hoch standardisierten und strengen Probenentnahmeverfahren in zahlreichen Kliniken weltweit, um die Vergleichbarkeit und Zuverlässigkeit der biologischen und klinischen Daten über Tumorentitäten, Krankenhäuser und verschiedene Regionen hinweg zu ermöglichen.

Jetzt zahlt sich dieser aufwendige Ansatz aus. In den letzten Jahren hat Indivumed damit begonnen, die Aussagekraft seiner Bioprobensammlung nicht nur im Rahmen von F&E-Dienstleistungen zu erschließen, sondern hat auch komplexe und relevante biologische Daten aus dem Material gewonnen. „Unser gefrorenes Material kann als kompletter Rohdatensatz der Tumorbiologie betrachtet werden“, so Juhl. Um die Rohdaten in eine Multi-omics-Datenbank umzuwandeln, setzte das Indivumed-Team eine Reihe außergewöhnlicher bioanalytischer Techniken ein, wie etwa

  • Gesamtgenomsequenzierung,
  • Phosphoproteom-,
  • Proteom-
  • und Transkriptomanalysen.

„Kombiniert mit klinischen Informationen und Daten zum Behandlungsverlauf sowie durch die Anwendung von Bioinformatik-Tools und KI-Algorithmen sind wir in der Lage, Daten aus einzelnen Krebsfällen auf ganz einzigartige Weise zu extrahieren“, sagt er.

Mehr Präzision durch intelligente Datensätze

Die Gewebeproben in der Biobank von Indivumed können als vollständiger Datensatz der Tumorbiologie betrachtet werden. Mithilfe modernster bioanalytischer Techniken werden sie in eine Multi-omics-Datenbank umgewandelt. Leistungsstarke Bioinformatik-Tools und intelligente Algorithmen werden dann eingesetzt, um die Daten zu extrahieren und sie in Wissen für die Präzisionsonkologie umzuwandeln.

Neue Bioinformatikplattform nRavel bringt die personalisierte Medizin vorwärts

Um seine Kapazitäten in der Informatik zu stärken, hat Indivumed ein Team von IT-Spezialisten, Bioinformatikern und Datenwissenschaftlern eingestellt. Darüber hinaus ist das Unternehmen bedeutende Partnerschaften mit IT-Unternehmen oder akademischen Partnern eingegangen, um seine digitale und datenanalytische Kompetenz auszubauen. Als jüngsten Meilenstein stellte Indivumed im Sommer 2021 nRavel vor, eine auf künstlicher Intelligenz basierende Bioinformatikplattform, die intern zur Unterstützung der Präzisionskrebsforschung entwickelt wurde.

Das neue Produkt verbindet die Multi-omics-Datenbank des Onkologie-Unternehmens mit maschinellem Lernen und einer Reihe leistungsstarker Analysetools. „Diese Entdeckungsplattform ermöglicht es uns, unsere Multi-omics-Datensätze routinemäßig auf praktisch jede aktuelle Fragestellung in der Onkologie hin zu analysieren“, erklärt Juhl. Der translationale Krebsforscher ist von der Geschwindigkeit des Ansatzes fasziniert: „Durch den Einsatz von nRavel haben wir zum Beispiel innerhalb weniger Wochen eine Reihe verschiedener neuartiger Wirkstoffziele für funktionelle Antikörper identifiziert“, sagt er. Experimentelle Studien hätten bereits vielversprechende Daten über die Funktionalität dieser Targets geliefert, sagt er.

Prof. Hartmut Juhl ist CEO und Gründer von Indivumed. © Indivumed
Prof. Hartmut Juhl ist CEO und Gründer von Indivumed. © Indivumed

Es sind spannende Ergebnisse wie diese, die Indivumed dazu veranlasst haben, die Entwicklung neuer Zielmoleküle und die frühe Wirkstoffsuche selbst in Angriff zu nehmen sowie hier strategische Partnerschaften mit anderen Pharmaunternehmen einzugehen. Indivumed hat im Jahr 2021 zwei Biopharma-Unternehmen für die Entwicklung von Therapien für mehrere neuartige Targets mitgegründet. „Wir sind dabei, uns von einem reinen Technologieplattform-Anbieter zu einem KI-getriebenen Onkologie-Biotech-Unternehmen zu entwickeln. Wir nutzen unsere eigene Innovationskraft für die Produktentwicklung und arbeiten mit so vielen Partnern wie möglich zusammen, um den enormen Wert unserer Datenbank zum Wohle künftiger Krebspatienten voll auszuschöpfen“, betont Juhl.

Kann eine KI Krebszellen erkennen?

Weitere Akteure im Norden erschließen das revolutionäre Potenzial des maschinellen Lernens zur Verbesserung der klinischen Diagnostik in der Krebsmedizin. Um schnellere Testergebnisse in der Pathologie zu liefern, hat das Hamburger Start-up Mindpeak eine Deep-Learning-Lösung entwickelt, die in Gewebeschnitten Brustkrebszellen in Sekundenbruchteilen erkennt und klassifiziert. Im Mai 2021 erhielt die KI-basierte Software die CE-IVD-Kennzeichnung. „Damit sind wir das erste Unternehmen in Deutschland mit einer solchen Zulassung in der klinischen Routinediagnostik in der Pathologie“, sagt Mitgründer und Geschäftsführer Felix Faber.

Das Hamburger Unternehmen FUSE-AI entwickelt intelligente Lösungen für Radiologen, um Läsionen in MRT- und CT-Scans bei verschiedenen Indikationen wie Prostatakrebs und anderen Indikationen schneller und genauer zu erkennen. In enger Zusammenarbeit mit Kliniken in Deutschland und der Schweiz entwickelt das Unternehmen seit 2019 eine KI-basierte radiologische Diagnosesoftware „prostate.carcinoma.ai“. Die Zulassung als Medizinprodukt nach EU-MDR sowie durch die FDA in den USA wurde für Mitte 2022 erwartet.

Onkologisches Exzellenzzentrum im Norden

Am University Cancer Center Hamburg (UCCH) ist die Präzisionsonkologie aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. „2015 haben wir unser molekulares Tumorboard eingeführt, das neu zu unseren 22 interdisziplinären Tumorkonferenzen pro Woche hinzukommt“, sagt Carsten Bokemeyer, Direktor des UCCH und Ärztlicher Direktor der II. Medizinischen Klinik für Onkologie und Hämatologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). „Im Jahr 2020 erhielten von 14.500 besprochenen Tumorpatienten etwa 25 bis 30 Prozent Empfehlungen auf Basis ihres molekularen Tumorprofils. Das spezifische molekulare Board richtet sich nun gezielt an Patienten, für die etablierte Therapien nicht mehr zur Verfügung stehen oder molekulare Therapien bereits scheiterten.“

Kann maschinelles Lernen bei einem molekularen Tumorboard eingesetzt werden?

Auch Informationstechnik und Anwendungen der künstlichen Intelligenz sind hier auf dem Vormarsch. So entwickelt das Team um Frank Ückert, Direktor des neuen Instituts für Angewandte Medizininformatik am UKE, Lösungen, um die hochkomplexen Daten aus den molekularen Tumorboards in Wissen zu verwandeln, das für diagnostische und therapeutische Entscheidungen genutzt werden kann.

„Für unsere Patienten des molekularen Tumorboards haben wir zudem spezielle Sprechstunden eingerichtet, um die Ergebnisse mit ihnen zu besprechen“, sagt Bokemeyer. Wegen solcher Angebote, aber auch wegen der engen Verzahnung von translationaler Forschung und Behandlung, einschließlich der Durchführung innovativer früher klinischer Studien, hat die Deutsche Krebshilfe das UCCH erneut zum Onkologischen Spitzenzentrum gewählt – als eines von nur 14 in Deutschland. „Dies ist eine Anerkennung unserer intensiven Bemühungen, die translationale Krebsforschung zu stärken und uns direkt an den Bedürfnissen unserer Patienten zu orientieren“, sagt Bokemeyer.

Wir wandeln uns von einem Anbieter einer Technologieplattform zu einem KI-getriebenen Onkologie-Biotech-Unternehmen.

Prof. Hartmut Juhl
CEO und Gründer von Indivumed

Sichtbare Fortschritte und weitere Zusammenarbeiten

Die Auszeichnung als Center of Excellence ist mit einer Förderung von 3 Millionen Euro verbunden. Ein wichtiges Ziel des UCCH in der neuen Förderperiode ist es, mit dem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) in Kiel und Lübeck ein norddeutsches Kompetenznetz für Krebsforschung und -medizin zu bilden und diese Standorte in einem Konsortium mit dem Hamburger Spitzenzentrum einzubinden.

„Wir haben bereits einige Verbindungen zu den Kollegen am Universitären Cancer Center Schleswig-Holstein (UCCSH) aufgebaut. Durch die überregionale Vernetzung im Bereich der translationalen Forschung und der klinischen Versorgung wollen wir jedem Patienten in Norddeutschland die Chance bieten, von den neuesten Innovationen in der Krebsmedizin zu profitieren“, sagt Bokemeyer. „Im Jahr 2024 wollen wir uns gemeinsam mit dem UCCSH als Onkologisches Konsortium Norddeutschland bei der Deutschen Krebshilfe bewerben“, so Bokemeyer.

Text: Philipp Graf

Beitragsbild: © Indivumed

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